Eine Geschichte in der Welt von Cloudage


Marie sah im Rückspiegel erschrocken auf die dunklen Wolken, die über dem Hafen immer weiter hoch in den Himmel stiegen. Sie konnte nicht sprechen - sie war immer noch so beeindruckt von der gewaltigen Explosion, die sie mit ausgelöst hatte. Na ja, eigentlich musste sie nur das Fluchtfahrzeug fahren - aber es kam natürlich anders, als gedacht. Sem tobte auf dem Fahrersitz: "Das darf doch alles nicht wahr sein, die haben uns von vorn bis hinten belogen! Von wegen, wir setzen das Zeichen für eine Zukunft ohne Öl - ich glaube wir haben gerade unsere Zukunft verbrannt!".

Marie schluckte, "was wenn Sem Recht hatte ..."? Sem kam aus Utrecht und war einer ihrer Kommilitonen, den Sie vor etlichen Jahren auf der UvA kennengelernt hatte. Vor allem das gemeinsame Engagement für den Umwelt- und Klimaschutz schweißte sie zusammen. Fast jede Woche organisierten sie kleinere und größere Störaktionen im Großraum Rotterdam. Bis Sem eines Tages eine erwartungsvolle Mine aufsetze und zu ihr sagte: "Ich habe jemanden kennengelernt - jemanden von Cloud".

Marie sah ihn erstaunt an - „Cloud? Was ist denn das für ein Name?“ „Sie wollen uns helfen, sie wollen uns unterstützen, damit wir endlich vorankommen, oder hast du wirklich Lust weiterhin mit unseren Störaktionen zu provozieren und dich beschimpfen zu lassen? Mir hängt das langsam zum Halse raus, mal ganz davon abgesehen, dass wir nichts erreichen“ - sagte Sem so überschwänglich, dass sich seine Stimme überschlug. Als Marie ihm widersprechen wollte redete er direkt weiter: "Er heißt Benjamin, ich weiß nicht, ob das sein wirklicher Name ist. Er möchte dich kennen lernen. Alle anderen von uns auch. Die Organisation die hinter ihm steht verfügt über enorme finanzielle Mittel und Logistik. Aber sie brauchen Leute. Leute die sich für die Sache einsetzen. Leute wie uns.“

Nützliche Idioten schoss es Marie unweigerlich durch den Kopf, aber das behielt sie vorerst für sich. Vielleicht hatte Sem Recht. Ihre Aktionen waren in letzter Zeit selten von Erfolg gekrönt. Oft hatten Sie Ärger mit Muggeln (so nannten Sie ihre Mitmenschen außerhalb ihrer Gruppe), der Polizei und anderen Gruppen, die ein Problem mit den radikalen Klimaschützern hatten. Aber das Schlimmste war, dass die öffentlichen Reaktionen zurückgingen. Selbst der lokalen Presse waren sie kaum noch einen Artikel wert und auch in den sozialen Medien erreichten sie niemanden mehr außerhalb ihrer Blase. „Na gut“, sagte sie „ein unverbindliches Treffen kann ja nicht schaden“. „Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann“, sagte Sem und sprang durch den Raum wie ein kleines Kind.

Einige Wochen später war es dann soweit. Sie schwangen sich auf ihre Räder und fuhren von ihrer WG im Vorort von Amsterdam zum Stadtzentrum. Hinter dem Rijksmuseum war ein großer Park mit kleinen Kaffees. Marie kannte diesen Ort sehr gut. Sie hatte hier mit Betty den ersten Abend in der neuen Stadt verbracht. Beide waren aus einem kleinen Dorf im Münsterland für das Studium nach Amsterdam gezogen. Vor dem großen Amsterdam-Schriftzug, der damals zu so etwas wie dem geheimen Wahrzeichen der Stadt wurde, haben sie etliche Fotos bei schönstem Wetter gemacht. Einen kurzen Moment dachte Marie wehmütig daran zurück. Inzwischen sah sie Betty nur noch selten. Ihr Engagement für den Klimaschutz schluckte so viel Zeit, dass sie für so was wie alte Freunde wenig übrig blieb.

Benjamin saß bereits an einem kleinen Tisch in der Nähe des großen Spielplatzes. Als er Sem und Marie entdeckte winkte er ihnen kurz zu. Benjamin war smart, gut gekleidet und begrüßte Marie und Sem sehr höflich. Trotz ihrer Vorbehalte musste Marie sich eingestehen, dass er ihr sofort sympathisch war. "Hello Marie, I'm glad you came along. Sem has already told me a lot about you", sagte Benjamin in perfektem Oxford Englisch. "Please take a seat". "Where from england are you from?", fragte Marie. "From Canterbury, but mit eurer Sprache habe ich auch keine Probleme. Meine Eltern haben sich schon früh um einen Platz an der Deutschen Schule in London bemüht. Anschließend ging es dann weiter nach Cambridge. "Dann wärst du eigentlich der letzte bei dem ich mir vorstellen würde, dass wir gemeinsame Ziele haben", sagte Marie mit einem etwas abwertenden Blick. "Das glaube ich dir", sagte Benjamin.

"Vor vielen Jahren, als ich noch in Cambridge war setzte bei mir ein Umdenken ein. Unsere Welt ist einfach nicht für den Kapitalismus geschaffen und ich war gerade auf dem Weg ein Bilderbuchkapitalist zu werden. Der eigentliche Auslöser war die Verhaftung meines Vaters. Er war der Drahtzieher hinter Heathrow Pause Part 2". "Als Extinction Rebellion den Londoner Flughafen mit Drohnen lahmgelegt hat?", fragte Sem. "Genau", sagte Benjamin, " der erste Versuch war ja in 2018 gescheitert aber 2025 hat es dann geklappt - wie ihr wisst. Mein Vater hatte es damals mit der gleichen Hartnäckigkeit geplant, mit der er seine Geschäfte durchgezogen hat. Früher habe ich dass immer gehasst, aber da war ich das erste Mal tief beeindruckt. Und noch mehr als er dafür in den Knast gekommen ist. Er hatte lange im Vorfeld dafür gesorgt, dass er auf eigenen Konten keinen Penny mehr hatte. Leider hatte ich nicht mehr die Möglichkeit mit ihm darüber zu sprechen. Einige Wochen vor der Haftentlassung bekam er eine Lungenentzündung und starb.“ „Das tut mir leid“, sagte Marie und blickte betroffen zu Sem hinüber.

„Wie machen wir weiter?", durchbrach Sem das unbehagene Schweigen. "Wie Sem bestimmt erzählt hat verfügt die Organisation hinter mir über enorme finanzielle Mittel. Das liegt daran, dass viele Idealisten die in der Tech-Branche zu Geld gekommen sind hinter uns stehen. Auch Sie haben eingesehen, dass es so nicht weitergeht. Zugegeben ist es etwas suspekt, dass sich das Kapital gegen sich selbst richtet, aber ich denke, dass ist der Schlüssel für die Ausgangstür. Wir haben natürlich bestimmte Dinge im Auge, die wir verfolgen, wie auch ihr bestimmt Aktionen für die nächste Zeit geplant habt. Mein Vorschlag wäre, dass ihr euch was überlegt, dass wir gemeinsam machen. Finanzierung und Ressourcen übernehme ich. Seht es als Vertrauensvorschuss - und als Weg, dass wir uns besser kennenlernen. Was meint ihr?", fragte Benjamin. Zu Sems Überraschung war Marie sofort einverstanden. Sie verabredeten sich für die darauffolgende Woche am gleichen Ort und schwangen sich dann auf ihre Räder.

"Was sagst du Marie", fragte Sem auf dem Rückweg. "Ich kann Benjamin noch nicht wirklich einschätzen. Er ist mir wirklich sympatisch, aber ich weiß nicht, ob er es mit seinem Engagement für den Klimaschutz so ernst meint, wie wir das tun. Vielleicht finden wir das heraus, wenn wir die erste Aktion geplant und gemeinsam durchgezogen haben."

"Het Keringhuis?" Benjamin sah Marie und Sem bei ihrem Treffen in der Woche später fragend an - " ich dachte, dass ist ein Museum in Rotterdam. Wie kann das Teil einer Aktion für uns werden?". "Het Keringhuis ist nicht nur ein Museum, es sind zwei riesengroße Tore, die den Rotterdammer Hafen vor Hochwasser schützen. Wenn diese Tore geschlossen und blockiert sind kommt kein Containerschiff mehr in den Hafen von Rotterdamm rein. Der gesammte europäische Warenhandel läuft durch diesen Flaschenhals.", sagte Sem. "Gut", sagte Benjamin sichtlich beeindruckt von der Idee - " was habt ihr vor?". "Zwei mal im Monat werden die Tore für Wartungsarbeiten und Tests routinemäßig geschlossen. Wenn Sie es sind müssen sie irgenwie geschlossen bleiben. Durch die Sabotage der Motoren in dem kleinen zentralen Pumpenhaus auf der Westseite. Leider ist das Museum an diesen Tagen geschlossen, so dass man nicht nah genug rankommt," sagte Marie. "Wie wäre es mit einem Kurzschluss? Ich habe durch unsere Geldgeber einige Kontakte zu verschiedenen Hackergruppen - für die wäre sowas sicher kein Problem". "Ja, da haben wir auch schon dran gedacht, allerdings werden die Tore dann über den autonomen Notstromgenerator auf der Ostseite gesteuert. Die gesammte Aktion wäre somit innerhalb weniger Stunden vorbei. Wahrscheinlich würde die Öffentlichkeit davon gar nichts merken". "OK, dann habe ich noch eine etwas konventionellere Idee. Rückt mal ein Stück näher ....".

Zwei Wochen später trafen sich Marie, Sem und Benjamin am Calandpark Landtong Rozenburg zum gemeinsamen Picknick am späten Nachmittag. Der Park war ein Kleinod im Hafen von Rotterdam. Überall grün mit viel Platz zum Spazierengehen und Radfahren. Es war ein Sonntag und die Tore von Het Keringhuis zum Hochwasserschutz wurden wie geplant um 18:00 Uhr zur Wartung geschlossen. Vom Park aus konnte man fast die ganze Anlage überblicken. Gegen 20:42 Uhr erschrak Marie, als sie ein leises sirren in der Luft hörte. Sie wusste was dass bedeutete. Ein paar Sekunden später gab es zwei heftige Explosionen auf der West- und der Ostseite der Hochwasserschutzanlage. Alle drei zuckten zusammen. Marie und Sem erschraken ein zweites Mal, als Benjamin den Korken der Sektflasche in die Luft schießen ließ. "Auf uns und auf Cloud!". Die Aktion wurde ein voller Erfolg. Sieben ganze Tage dauerte es, bis die Tore überhaupt wieder bewegt werden konnten. Die Explosion an der Ostseite hatte ein Tor aus der Verankerung gerissen und lag direkt auf Grund. Die Containerriesen stauten sich bis in den Ärmelkanal und der globale Welthandel machte eine kurze aber heftige Verschnaufpause. Durch den Einsatz einer dritten Drohne mit Wärmebildkamera war es ihnen gelungen, dass niemand verletzt wurde. Marie und Sem bestanden darauf.

Mit Het Keringhuis waren die Zeiten auf der Straße für Marie und Sem ein für allemal vorbei. Ihr Engagement für den Klimaschutz wurde konspirativer aber vor allem erfolgreicher. Immer mehr ihrer damaligen Weggefährten schlossen sich Cloud an. Benjamin stellte sich als brillanter Stratege heraus. Er war der Planer, ein Macher und Sem und Marie freuten sich auf jedes neue Treffen mit ihm. Was sie gemeinsam erarbeiteten gaben Sem und Marie wiederum an ihr Gruppe weiter. Bei der Durchführung der Aktionen war Benjamin allerdings mit der Zeit immer weniger dabei. "Sorry, Networking", sagte er meist. Erst später begriffen Marie und Sem, dass sie nur ein Ableger in einer konspirativen globalen Bewegung von Klimaaktivisten waren.

"Dies ist unser vorerst letztes Treffen denn ich muss für einige Zeit in die USA. Langsam wird es Zeit in größeren Dimensionen zu denken", sagte Benjamin bei einem ihrer Treffen ziemlich genau zwei Jahre, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Inzwischen kannten sich die drei so gut, dass Benjamin die Enttäuschung in den Gesichtern von Marie und Sem sah und schob hinterher: "vertraut mir - länger als drei Monate bin ich nicht weg und dann wird es Zeit die Welt zu ändern". "Was meinst du damit?, fragte Sem. "Lasst euch überraschen. Wie ihr wisst verfolgt die Organisation hinter uns durchaus Ziele auf globaler Ebene und nun wird es Zeit den nächsten Schritt zu gehen. Aber keine Angst, sobald ich wieder in den Niederlanden bin werde ich euch in alles einweihen. Allerdings muss ich euch um einen Gefallen bitten: keine Aktionen mehr für die nächsten drei Monate. Auch nichts kleines. Macht euch am besten unsichtbar und gebt das bitte auch an Tomash und die anderen weiter, ok?". "Ja, ist in Ordnung", sagte Marie. Der etwas beleidigte Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. "Danke ", sagte Benjamin und verabschiedete sich von den Beiden.

Wie versprochen gab es in der nächsten Zeit keine konspirativen Treffen, Aktionen und sonstige Aktivitäten. Marie, Sem und ihre Gruppe lebten ein völlig normales Leben, wie die anderen Muggel. Mit der Zeit fiel auch die grundlegende Anspannung von ihnen ab, die ein ständiger Begleiter geworden war. Zwar hatten Sie in der letzten Zeit seltener Kontakt mit der Polizei, aber das Gefühl ständig beobachtet und erwischt zu werden war für so manch einen schwer erträglich. Es machte eben einen großen Unterschied, ob man sich zwischendurch bei einer Sitzblockade von der Polizei wegtragen ließ, oder ein Doppelleben im Untergrund führte. Die politische Stimmung war auch durch ihre Aktionen teilweise gekippt und für die "Ökoterroristen" wurde in den Niederlanden eine eigene Task Force gegründet. Sem musste wegen Het Keringhuis einige Tage in Untersuchungshaft, aber ihm konnte nichts nachgewiesen werden.

Marie fing an die "freie" Zeit zu genießen. Sie hatte sogar wieder Zeit um mit Betty einige Tage ans Meer und in die Heimat zu fahren. Anfangs war Betty verständlicherweise nicht besonders angetan, denn Marie hatte über drei Jahre nichts von sich hören lassen. Dann ließ sie sich aber doch darauf ein und auch sie genoß die Zeit mit Marie, bis Sem eines Tages eine SMS bekam - Benjamin war zurück.

"Es gibt zwei strategische Stellen im Ölhafen von Rotterdam", erklärte Benjamin beim ersten Treffen nach seinem langen Aufenthalt in den USA. "Wenn man an diesen Stellen gezielt Explosionen verursacht gibt es eine Kettenreaktion. Dort lagert ein großer Teil der strategischen Kraftstoffreserven von ganz Europa." Marie sah Benjamin entgeistert an. "- mal abgesehen wie du da auch nur in die Nähe kommen willst - ich mache bei keiner Aktion mit, bei der Menschenleben gefährdet werden". "Marie, dein Misstrauen ehrt dich, aber inzwischen solltest du mich kennen. Das ist ein Teil den wir durchaus bedacht habe. Grundsätzlich ist es so, dass in den großen Ölterminals alles automatisiert abläuft - gesteuert von einer zentralen Stelle innerhalb der Hafengesellschaft. An den Tankterminals selber gibt es ein paar kleinere Baracken für die Techniker. Sobald ein Alarm ausgelöst wird, werden die Techniker über Rettungswege entweder das Gelände verlassen, oder Schutz in einem der zahlreichen Bunker suchen. Diese verfügen über eine autonome CBRN-sichere Luft-, Wasser und Energieversorgung. Die Detonationen finden genau vier Minuten nach dem Ausbruch des Feuers statt. Genug Zeit also, dass sich jeder in Sicherheit bringen kann - damit meine ich natürlich auch uns und noch zu deiner ersten Frage: Herzlich willkommen bei CT WIRE Communications - dem größten Kommunikations- und Netzwerkspezialisten der Niederlande". Benjamin hielt Marie und Sem grinsend zwei Ausweise mit ihren Fotos vor die Nase. "Ich muss jetzt weiter. Wir haben ein Firmengelände vor den Toren der Stadt angemietet und da wartet noch eine Menge Arbeit auf mich. Zwei Tage vor Tag X erfahrt ihr alle Einzelheiten. Ich hoffe, dass ihr dabei seid - es wird der Tag an dem wir Geschichte schreiben."

Nach dem Treffen mit Benjamin entbrannte zwischen Marie und Sem eine hitzige Diskussion: "Sem, ist dir klar, was wir da tun? Wenn wir da mitmachen ist es vorbei. Das hat dann nichts mehr mit zivilem Ungehorsam zu tun. Nach dieser Aktion können wir nicht mehr in unser altes Leben zurück". "Ich meine wir sollten Benjamin vertrauen. Wir ziehen unsere Aktionen seit jetzt fast drei Jahren durch und konnten uns immer auf ihn verlassen, " erwiderte Sem. "Und glaub mir, wenn wir da nicht mit ihm gehen übernehmen das andere Leute von Cloud". "Mag sein, aber mir geht das alles viel zu schnell - ich ... verdammt Sem ich muss da erst mal drüber nachdenken ", sagte Marie, schwang sich auf ihr Rad und fuhr aufgebracht Richtung Innenstadt davon.

Genau zwei Monate nach dem Treffen mit Benjamin saß Marie zusammen mit Sem in einem der drei Transporter mit der Aufschrift „CT WIRE Communications“. In den anderen zwei Transportern saßen Tomash und Lu sowie Benjamin und Carsten. Carsten und Lu hatten sie erst vor zwei Tagen kennengelernt. Die beiden waren ihnen nicht wirklich sympathisch. Beide waren Ex-Militärs aus der Fremdenlegion. Lu war Kommunikationsspezialist und Carsten Sprengstoffexperte. Zum Glück hatte Tomash sich bereiterklärt einen der Transporter zu fahren. Marie musste immer an die Ladung denken, die da unter dem doppelten Boden versteckt war: 200 kg C4 Sprengstoff in militärischer Qualität. Als sie morgens die Schusswaffen sah, die Carsten und Lu unter ihren Overalls trugen, konnte Sie ihren Unmut kaum verbergen. Benjamin versuchte sie zu beruhigen und erklärte, dass dies keine scharfen Waffen waren, sondern nur zur Abschreckung dienten, falls einer der Hafenarbeiter ihnen zu Nahe kommen sollte.

Am Hafen angekommen ging alles zunächst ohne Probleme. Am Tor wurden der Konvoi freundlich begrüßt und auch nicht weiter kontrolliert. Wie geplant hatten Hacker von Cloud die gesamte Kommunikation des Ölhafens lahmgelegt und damit den Weg für die Experten von „CT WIRE Communications“ freigemacht. Nach ca. zehn Minuten standen die Transporter an den vorher besprochenen Positionen - Marie und Sem relativ nahe am Tor, denn ihr Transporter diente nur zur Flucht. Dann ging alles ganz schnell. Es gab eine kleine Explosion, die wie geplant, den Feueralarm auslöste. Ein Arbeiter rannte an dem Transporter von Marie und Sem vorbei und schrie sie an - " bringt euch in Sicherheit!" Dann hörten Sie zwei Schüsse. Im Rückspiegel sah Marie, wie Tomash hinter einigen Fässern auf sie zustolperte. Sein Gesicht war mit Blut überströmt. Dann ein weiterer Schuss und Tomash ging zu Boden. Gerade als Marie aus dem Transporter springen wollte kam Carsten mit gezogener Pistole um die Ecke. Sem schrie, "Marie wir müssen hier weg - mach schon". Ein erster Schuss traf den rechten Außenspiegel, der in tausend Stücke zersplitterte. Ein zweiter durchschlug die hintere Tür und verfehlte Sem nur knapp. Marie trat aufs Gas. Sie passierten das offen stehende Tor. Einige Arbeiter standen an einem Sammelpunkt ca. 300 m entfernt und zeigten wild gestikulierend Richtung Tor. In der Ferne waren Sirenen zu hören. Im nächsten Moment wurde der Transporter gegen einen Zaun geschleudert. Marie konnte das Steuer nicht mehr halten und trat mit beiden Füßen auf die Bremse.

Wie durch dicken Nebel hörte Sie Sems Stimme - " Marie verdammt - wach auf". Langsam kam sie wieder zu sich. Die Druckwelle der Explosion hatte den Transporter beiseite geschoben. Überall war dichter Rauch. "Rutsch rüber", schrie Sem. Er öffnete die Fahrertür und schubste Marie unsanft auf die rechte Sitzbank. Nach einiger Zeit kam Marie wieder zu sich, war aber noch so beeindruckt von dem, was dieser Sprengstoff angerichtet hat, dass sie keinen Ton herausbrachte. Als sie nach einiger Zeit die Autobahn verließen und auf die Landstraße Richtung Amsterdam einbogen sahen Sie von weitem den Qualm. Als sie näher kamen bestätigte sich ihre Vermutung: auch die Lagerhalle auf dem Firmengelände, die ihnen zwischenzeitlich als Treffpunkt und Unterschlupf diente stand in Flammen. Sem lenkte den Wagen auf den kleinen Schotterparkplatz vor der Halle und sprang mit einem Satz aus dem Auto. „Mach jetzt keinen Scheiß Sem“, schrie Marie hinter ihm her. „Ich will heute nicht noch jemanden verlieren“, aber Sem hörte Sie schon nicht mehr.

Einige Sekunden später zuckte Marie zusammen. Sie wusste, dass es zwei Schüsse waren wie sie da soeben gehört hat. Mit einem Satz sprang sie aus dem Auto und rannte so schnell sie konnte in Richtung Felder. Früher hat es rund um Amsterdam kilometerlange Tulpenfelder gegeben, aber diese waren inzwischen auch dem Mais gewichen. Seit dem Jahr 2025 mussten die ersten Menschen in Europa wieder lernen was es heißt Hunger zu haben, denn nach zwei Jahren Trockenheit gab es die ersten Missernten. Noch im gleichen Jahr wurde es dann verboten Zierpflanzen auf den Feldern einzubauen. Als sie das Feld erreichte hörte sie in der Ferne Stimmen. Und noch einen weiteren Schuss. Sie rannte und rannte immer tiefer in das Feld hinein. Zum Glück Stand der Mais schon hoch und ragt weit über dem Kopf. Ich muss hier weg - ich muss nach Hause dachte sie, und zwar ganz nach Hause.

Sie rannte die Treppen der Metrostation hinauf. Das Haus in dem sie ein WG-Zimmer hatte war nur ca. 100 m von der Station entfernt. Als sie aus der Eingangshalle der Station trat sah sie ein blaues Lichtermeer. So viele Polizeiwagen auf einmal hatte sie wohl noch nie gesehen. Sie schluckte und ging ein Stück bis zu der Ecke von wo man ihr Wohnhaus sehen konnte. Die Polizei hatte das Haus abgeriegelt. Überall waren Polizisten, die eilig Kisten aus dem Haus trugen. Gerade als Marie sich umdrehte und einen Sprint zurück zur Metrostation einlegen wollte prallte sie mit jemand anderem zusammen. "Betty" - rief Marie und brach in Tränen aus "was, was machst du denn ....". Doch aus ihrem Mund drang nur noch lautes schluchzen. "Reiß dich zusammen", sagte Betty, " sonst schnappen Sie dich hier direkt. Komm schon, ich bring dich hier weg".

"Sie haben uns gelinkt", war das erste, was Marie nach über 1,5 Stunden Autofahrt herausbrachte. Es war kaum mehr als ein leises Flüstern. "Ich weiß" antwortete Betty. Wir können froh sein, dass wir noch aus Amsterdam rausgekommen sind. Zuerst hatte man die Explosionen in Rotterdam noch für ein furchtbares Unglück gehalten, aber als das mit den Ölquellen durchsickerte haben Sie die Ringstraßen komplett abgeriegelt. "Ölquellen? Was denn für Ölquellen?", Marie sah Betty fragend an. "Hast du davon etwa auch nichts gewusst? Wie naiv bist du eigentlich? In mehreren Staaten im mittleren Osten wurden Ölquellen zuerst gesprengt und dann angezündet. Auch auf mehreren Plattformen im Golf von Mexico soll es Explosionen gegeben haben. Und überall gibt es Hinweise das Cloud dahinter steckt.

Das alles war inzwischen mehr als sechs Jahre her. Es hatte nicht lange gedauert, bis Marie von der Polizei im Haus ihrer Eltern verhaftet wurde. Für das kleine Dorf war es wohl die größte Polizeiaktion, die es jemals gesehen hat. "Ne, uns ist nie was aufgefallen" hörte Marie eine der neugierigen Nachbarsfrauen sagen, als sie unsanft in den Streifenwagen geschubst wurde - "die Marie ist doch so ein nettes Mädchen".

Am Tag ihrer Entlassung aus der JVA hatte sich die Welt geändert. Klimaschützern und linken Parteien wurde damals eine Mitschuld an den Anschlägen gegeben. In vielen Ländern kamen rechtsradikale Parteien an die Macht. Es gab aber auch Hinweise dass es Verbindungen zwischen Cloud und einigen Geldgebern aus der rechten Szene gab. Allerdings konnte nie etwas bewiesen werden. Im Gegenteil - Cloud mutierte immer mehr zu einem modernen Mythos.

Und das Klima? Nun, in den ersten Monaten nach den Anschlägen wurde es dunkel. Und mit der Dunkelheit kam die Kälte. Die Preise für fossile Brennstoffe hatten sich vertausendfacht. Es gab in ganz Westeuropa kein fahrendes Auto mehr. Zudem wurde einige Tage nach den Anschlägen bekannt, dass Aktivisten die Anlandestation für Erdgas in der Narwa-Bucht gesprengt hatten. Damit war die einst so umkämpfte Gaspipeline Nordstream 2 Geschichte. Genauso wie die Gasversorgung für Westeuropa. Die Folgen waren verheerend. Hundertausende Menschen überstanden die erste Kältewelle nicht. Als Folge der plötzlich auftretenden Kälte gab es reihenweise Ernteausfälle wodurch wiederum mehr als 10 Millionen Menschen in Europa ums Leben kamen.

Nach ca. sechs Monaten kam die Sonne zum ersten Mal wieder hinter den immergrauen aschfahlen Wolken hervor. An dem Tag freuten die Menschen sich so euphorisch, dass Marie es bis in die Zelle der JVA hören konnte. Tage und Nächte wurden durchgefeiert. Zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand absehen, dass die Sonne gekommen war um zu bleiben. Und sie blieb und brannte und brannte bis Europa nur noch eine Wüstenlandschaft war. Erneut gab es schreckliche Kämpfe und viele Tote. Diesmal ging es um Wasser.

Marie erlebte die ersten Jahre nach ihrer Inhaftierung wie einen komatösen Zustand. Das Gericht konnte ihr damals keine direkte Mitschuld an den Anschlägen nachweisen. Letztendlich wurde sie wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu acht Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt. Angesichts der katastrophalen äußeren Zustände war Marie überzeugt, dass sie die Haft in der JVA Stammheim nicht überleben würde.

Der Klima Bewegung hatte Sie inzwischen entsagt. Was soll es da auch noch groß zu schützen oder zu retten geben? Das einzige was sie wirklich interessierte war nur eins: Rache. Rache für Tomash, Rache für Sem, Rache für eine Zukunft, die sie und Millionen andere Menschen auf der Welt jetzt nicht mehr erleben dürfen - ganz zu schweigen von den Menschen die in Folge der Anschläge ihr Leben lassen mussten.