Everdell
Mein lieber Neffe, die Zeit der Kälte ist endlich vorbei. Als ich heute von meinem Spaziergang aus dem Wald zurückkehrte und aus der Ferne die ersten goldenen Strahlen des Immerbaums erblicken konnte wurde mir schnell wieder bewusst, dass ich es kaum erwarten kann dich wieder in meine Arme zu schließen. Drei lange Jahre sind inzwischen vergangen, seitdem deine Eltern mit dir ins weit entfernte Frankenbrook gezogen sind. Ich verstehe das natürlich, in Everdell ist Wohnraum knapp und für einen fleißigen Mäuserich wie deinen Vater gibt es hier kaum noch eine Arbeit, die anständig bezahlt wird. Aber meine lieber Neffe sollst du doch wissen: ich vermisse dich und deine Eltern so sehr.
Für euren Besuch in den großen Ferien im Sommer habe ich mir ein ganz besonderes Programm ausgedacht. Stell dir vor, unten am Fluss gibt es jetzt ein neues Theater. Jeden Samstag und jeden Sonntag führen die Einwohner von Everdell dort tolle Theaterstücke auf. Samstags an den Nachmittagen auch für Kinder. Die Zuschauer sitzen dabei am Flussufer und die Bühne ragt halb in den Fluss hinein, so dass alle etwas sehen können. Habe ich schon gesagt, dass ich mich sehr auf euren Besuch freue? Und jetzt versuche ich ein wenig zu schlafen. Gute Nacht mein lieber Neffe und gute Nacht mein liebes Everdell - dein Villminian Flatterflug.
Wen die literarischen Fähigkeiten des Autors jetzt nicht total abgeschreckt haben darf uns gerne weiter auf die Reise nach Everdell begleiten. Das Spiel ist Anfang des Jahres 2021 in einer deutschen Version erschienen und für ein bis vier Spieler ab zehn Jahren geeignet.
Ankunft in Everdell
Der Spielaufbau geht überraschenderweise schnell von der Hand. Nach dem Zusammenstecken des Immerbaums werden die Ressourcen auf die entsprechenden Felder verteilt, Wald- und Ereigniskarten bereitgelegt und jeder Spieler bekommt eine bestimmte Anzahl an Handkarten, die sich nach der Reihenfolge richtet. Beginnend mit dem Startspieler führen alle reihum im Uhrzeigersinn immer eine der folgenden drei Aktionen aus - und zwar bis das Spielende eintritt:
- Einen Arbeiter einsetzen
- Eine Karte ausspielen
- Sich auf die nächste Jahreszeit vorbereiten
Orte der Arbeit
In Everdell gibt es verschiedene Orte, an denen Arbeiter eingesetzt werden können. Diese erkennt man an dem Tatzensymbol, dass von einem offenen oder geschlossenen Ring umrandet wird. Orte mit offenem Ring können von mehreren Spielern besetzt werden. An allen direkt auf dem Spielbrett befindlichen Orten gibt es für eingesetzte Arbeiter Ressourcen, neue Karten oder auch Siegpunkte. Eine Besonderheit sind die Ereignis- Orte, die oberhalb des Flusses und in Form von Karten auf dem Immerbaum liegen. Um diese Orte mit einem Arbeiter zu besetzen müssen bestimmt Bedingungen erfüllt sein.
Wesen und Bauwerke
Um eine Karte auszuspielen müssen die entsprechenden Ressourcen vorhanden sein. Karten können entweder von der Hand oder direkt von der Wiese ausgespielt werden. In einer Stadt dürfen maximal fünfzehn Karten liegen (3x5 Raster). Jede einzigartige Karte darf nur einmalig in einer Stadt liegen. Wird ein Wesen gespielt müssen entweder die Ressourcen oder das geforderte Gebäude vorhanden sein. Im letzteren Fall wird das Gebäude mit einem Besetzt-Marker belegt. Es gibt unterschiedliche Kartentypen, die an verschiedenen Stellen im Spiel bestimmte Effekte auslösen:
- Bewegung (braun): wird ausschließlich beim Ausspielen der Karte aktiviert
- Produktion (grün): wird beim Ausspielen und bei der Vorbereitung auf Frühling und Herbst aktiviert
- Ziel (rot): wird aktiviert, sobald ein Arbeiter darauf eingesetzt wird
- Verwaltung (blau): Effekt kann im weiteren Spielverlauf genutzt werden
- Wohlstand (violett): wird am Ende des Spiels aktiviert
Im Wechsel der Jahreszeiten
Sobald ein Spieler keinen Arbeiter mehr einsetzen und auch keine Karte mehr ausspielen kann oder möchte muss er sich auf die nächste Jahreszeit vorbereiten. Dazu werden zuerst alle Arbeiter vom Spielbrett zurückgeholt und anschließend die auf dem Immerbaum angezeigten Aktionen ausgeführt. Die Vorbereitung auf die nächste Jahreszeit ist eine normale Aktion - d. h. es ist ganz normal, dass diese nicht zeitgleich von allen Spielern ausgeführt wird.
Nach dem Herbst kommt der Winter
Sobald ein Spieler im Herbst keinen Arbeiter mehr einsetzen und auch keine Karte mehr ausspielen kann oder möchte ist das Spiel für ihn beendet. Auch in dieser Spielphase ist es ganz normal, dass das Spiel nicht für alle Spieler zur gleichen Zeit endet. Über die gesammelten Siegpunkte wird der größte Baumeister von Everdell ermittelt. Dazu werden alle Punkte auf Bauwerken, Wesen, Ereignis Karten und Ereignis Orten zusammengezählt. Ggf. gibt es noch Bonuspunkte über die Wohlstandskarten.
Die alte Ratte Fusselwürz
Everdell kann auch im Solo Modus gespielt werden. Dabei tritt der Spieler über drei Jahre mit steigendem Schwierigkeitsgrad gegen die alte Ratte Fusselwürz an. Fusselwürz spielt immer Karten aus, wenn der Spieler eine Karte ausspielt. Mit dem achtseitigen Würfel wird per Zufall eine Karte von der Wiese gezogen, die die Stadt von Fusselwürz erweitert. Wenn dabei Bedingungen von Ereigniskarten erfüllt werden wandern diese ebenfalls in den Besitz von Fusselwürz. Zu Beginn besetzt bzw. blockiert er Ressourcenfelder mit seinen Arbeitern. Im weiteren Verlauf werden Karten auf der Wiese durch seine Arbeiter blockiert. Diese grundsätzlichen Änderungen im Spielverlauf werden dann in den Jahren zwei und drei noch einmal verschärft.
Das schönste Spiel aller Zeiten?
Everdell ist vom Mechanismus erstmal ein ganz normales Worker Placement Spiel mit Teilen eines Engine Builders. Aber was macht es so besonders? Zum einen sind es die spannenden Synergieeffekte, die die Bauwerke und Bewohner einer Stadt bilden. Zum Anderen ist es die wirklich außergewöhnliche liebevolle Gestaltung des gesamten Spielmaterials. Dazu gehören z. B. auch die offenen Bauwerke, die es erlauben Aktionen in den Dörfern des Gegenspielers zu nutzen, oder seine Arbeiter nach der Saison im Herbst auf eine Reise zu schicken. In der Anleitung finden sich kleine Geschichten zu den verschiedenen Dorfbewohnern die die zauberhafte Atmosphäre auf dem Spieltisch unterstreichen. Und über allem steht der große dreidimensionale Immerbaum, auf dem Arbeiter und Aufträge auf ihren nächsten Einsatz warten. Klar hat die formschöne Gestaltung auch einige Nachteile. So sind je nach Spieleranzahl Karten und Ereignis Plättchen durch den Immerbaum verdeckt. Das alle Spieler alles gut lesen und sehen können ist eigentlich nur mit ein bis zwei Spielern möglich. Alternativ kann der Baum aber einfach weggelassen oder außerhalb des Spielbretts platziert werden.
Dem Anspruch ein Expertenspiel zu sein wird Everdell durch seine vielfältigen Karteneffekte durchaus gerecht. Der Einstieg gestaltet sich aber recht einfach, da die Spieler meistens immer nur zwei verschiedene Aktionen ausführen. Wenn nach einigen Runden alle Bewohner und Gebäude von Everdell bekannt sind, ist eine Partie flott gespielt und wird Vielspieler und auch Einsteiger begeistern. Die verschiedenen Wald- und Ereigniskarten sorgen dafür, dass das Spiel nicht so schnell langweilig wird. Wer dann immer noch nicht genug von Everdell hat kann auf die Erweiterungen zurückgreifen. Die Pearlbrook Erweiterung ist inzwischen auch auf deutsch erhältlich. Der Solo Modus ist etwas glückslastiger, aber durchaus fordernd. Alles in allem ist Everdell eine mechanisch ausgereifte Mischung zwischen Worker Placement und Engine Builder mit zauberhafter Optik. Wer das Spiel noch nicht kennt sollte unbedingt einen Blick darauf werfen.
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